Merkwürdiger Zufall
Eine Zeitreise in das Jahr 1900, in dem noch Kaiser und Könige regierten.
An ihrem elften Geburtstag erinnerte sich der Kaiser an seine Tochter Anna.
Die Regierungsgeschäfte hatten ihn in Beschlag genommen. Reisen, Feldzüge, Nichtigkeiten. Wünsche seiner Hofbeamten. Hatte nicht eine Amme die Tochter in Obhut genommen? Anna war ein merkwürdiges Kind gewesen. Mit blasser Haut und pechschwarzen Haaren, erinnerte sich der Kaiser.
Heute war der 4. April, der Jahrestag ihrer Geburt, kurz vor Ostern. Er fragte sich, was aus ihr geworden sei.
Der Kaiser rief seine Hofbeamten. »Holt meine Tochter«, befahl er, »ich möchte mit ihr speisen!«
Während er auf seine Tochter wartete, dachte er daran. Er war Kaiser und er hatte alles: Macht, Geld und den Respekt der Hofbeamten und der Bürger. Aber war das wichtiger als seine Tochter? Wenn sie ihn als Vater nach so langen Jahren nicht anerkennen würde, sogar nicht mal respektieren, wäre sie im Recht.
Seufzend dachte er daran, dass er und seine Frau nicht sehr glücklich verheiratet gewesen waren. Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, um Streitereien mit ihr auszuweichen, hatte sich auf Feldzüge begeben, von denen er unter Umständen nicht zurückgekommen wäre. Bei Annas Geburt war seine Frau gestorben. Er hatte Schuldgefühle, dass er sich zu wenig um seine Frau gekümmert hatte. Fühlte sich für den Tod von Annas Mutter verantwortlich.
Im Unterbewusstsein, schob er die Schuld auf das Kind und hatte innerlich Angst, dass es genau so exzentrisch würde wie die Mutter, er es unter Umständen hassen und schlecht behandeln würde. Besonders, wenn es im Palast aufwachsen würde. Oder ebenfalls nicht überleben würde, er hatte auch Feinde. Er wusste nicht, was falsch oder richtig war. Geschäfte, Feldzüge, Benehmen auf Reisen, das alles konnte man aus Büchern lernen. Aber im Privaten musste man selber entscheiden können, besonders in sehr schwierigen Situationen. Er wusste damals nicht, ob er seine Tochter lieben oder hassen sollte.
Die Amme nahm ihm die Entscheidung ab. Sie war die Frau des Palastgärtners und wohnte mit ihrem Mann am Ende des Palastgartens, in einem schönen Häuschen. Da er oft monate- und jahrelang nicht zu Hause war, hatte er seine Tochter nie im Garten gesehen. Wusste seine Tochter, dass er ihr Vater war? Würde sie ihn hassen, weil er sich nicht um sie gekümmert hatte? Ach, um Himmelswillen, er hatte ja nicht einmal ein Geburtstagsgeschenk für sie. Es war ihm, als ob eine Stimme ihm ins Ohr flüsterte: »Du machst ihr heute das schönste Geburtstagsgeschenk.«
Die Hofbeamten kamen zurück: »Kaiser, deine Tochter ist nicht mehr bei der Amme, die ist vor drei Jahren gestorben!«
»Verdammt noch mal, holt den Gärtner!«
Die Hofbeamten drucksten herum: »Der hat gekündigt und ist ausgewandert.«
Der Kaiser schaute aus dem Fenster und sah dort ein elfjähriges, bildschönes Mädchen mit pechschwarzen Haaren und einem etwas blassen Teint Geschenke auspacken. Sie rannte wie eine Gazelle zur Eiche und sagte mit einer feinen Stimme. »Danke für die wunderschönen Geschenke.«
Der Kaiser fragte die Hofbeamten: »Wer ist das Mädchen?«
Die Hofbeamten antworteten: »Die Enkelin des neuen Gärtnerehepaars. Die Mutter ist gestorben, der Vater möchte von seiner Tochter nichts wissen.«
»Merkwürdiger Zufall«, sagte der Kaiser und befahl: »Dann soll das Mädchen an meiner Tochter Stelle mit mir speisen und für heute meine Tochter spielen!«
Zwei Stunden nach seinem Befehl kam das Mädchen, wunderschön angezogen, und begrüßte den Kaiser mit einem Knicks. Sie hatte ein einfaches, schlichtes und feines Benehmen. Sie plauderten über dies und das.
Plötzlich wurde das Mädchen traurig, Tränen kullerten über ihre Wangen und machten ihren Teint noch schöner.
So könnte seine Tochter heute aussehen und wäre vielleicht auch so traurig.
Der Kaiser fragte: »An was denkst du? Und ich habe vergessen, dich zu fragen, wie du heißt?«
»Ich heiße Anna und denke an meine Großeltern.«
»Warum, sind die nicht gut zu dir?«
»Doch, sie sind die liebsten Großeltern. Meine Großeltern haben einen Sohn verloren, den sie sehr liebten. Der ist sogar Kaiser«, fuhr das Mädchen fort.
Dem Kaiser fiel ein, dass er auch seine Eltern im Streit herausgeworfen hatte und er nicht einmal wusste, wo sie waren. »Anna wäre es nicht schön, wenn deine Großeltern mitfeiern würden?«
»Oh ja«, sagte Anna freudestrahlend.
»Gehen wir sie holen«, sagte der Kaiser.
Beim Gartenhäuschen angekommen, standen seine Eltern mit seinem Bild in der Hand. Seine Mutter wartete mit Tränen in den Augen auf ihn. Sein Vater sagte zu Anna: »Das ist dein Vater.«
Anna sagte: »Heute ist mein schönster Geburtstag. Aber du darfst nie wieder jemand im Streit herauswerfen, Vater.«
Weitere Geschichten sowie mehr Info gibt es auf der Seite der Autorin
Mamatanteoma & bei facebook: Tintenfeder